Die Herausforderung bzw. Anfechtung etablierter „Denkstile“ (Fleck) hatte in der Wissenschaftsgeschichte meist zweierlei Konsequenzen. Entweder wurden neue Entwicklungen abgelehnt und versucht, den Kern bestehender Grundannahmen mithilfe isolationistischer „Schutzgürtel“ (Lakatos) zu verteidigen. Oder ‚fremde’ Perspektiven wurden begrüßt und als Möglichkeit gesehen, andere Formen wissenschaftlichen Arbeitens zu etablieren und in Forschung und Lehre umzusetzen. So gegensätzlich diese beiden Reaktionen auch erscheinen mögen, so haben sie dennoch etwas Entscheidendes gemeinsam: In beiden Fällen ist eine gewisse paradigmatische Verunsicherung und konzeptionelle Unschärfe zu beobachten, die meist mit Hilfe heuristischer Metaphern bzw. programmatischer Schlagwörter zu überbrücken versucht wird.
Besonders deutlich zeigt sich diese Form des „Schwankens“ (Popper) im Kontext der kulturellen Wende in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Ganz offensichtlich führte der cultural turn zur Wahrnehmung neuer Problemzusammenhänge und Ausbildung neuer Forschungsbereiche, die je nach Interessenslage anerkannt und unterstützt oder eben abgelehnt und im schlimmsten Fall sogar diskreditiert werden. Der Grund für diese meist auch wissenschaftspolitisch motivierten Diskurse ist in der Regel einfacher als man auf den ersten Blick vermuten würde, schließlich ist die sprichwörtliche Übersetzung der kulturellen Wende in allgemein verbindliche Bezugsgrößen und Begrifflichkeiten ausgesprochen schwierig. Nicht zuletzt auch deshalb, da sich die Auseinandersetzung mit kulturellen Fragestellungen über das gesamte Feld geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen erstreckt, deren Erkenntnisinteresse, Untersuchungsgegenstände und Vorgehensweisen sich teilweise erheblich voneinander unterscheiden.
Es ist daher auch kein Zufall, dass die konzeptionelle Weiterführung der kulturellen Wende zunehmend partiell verhandelt wird und sich dabei an den theoretischen und empirischen Interessen einzelner Forschungsbereiche orientiert. In der Folge sind eine Vielzahl weiterer turns ausgerufen worden, die sich wiederum auf das Begriffsinventar von Disziplinen beziehen, die bis dato nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit standen. Exemplarische Beispiele dafür sind etwa Diskussionen im Kontext des spatial turns oder des translational turns, in denen Fragen der Interaktion und des Austauschs aus der Perspektive unterschiedlichster Disziplinen auch mit Hilfe translationswissenschaftlicher Terminologie konturiert werden.
Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich dieser Panel mit der grundlegenden Frage nach dem Verhältnis zwischen Translations- und interkultureller Kommunikationstheorie. Es sollen Möglichkeiten und Grenzen des theoretisch-konzeptionellen Austauschs und der Zusammenarbeit ausgelotet und folgende miteinander verwobenen Themen- und Fragenkomplexe bearbeitet werden:
(1) Interkulturelle Kommunikation als Wissenschaft hat sich im Gefolge der kulturellen Wende als „Denkkollektiv“ (Fleck) in der Wissenschaftslandschaft institutionalisiert. Interkulturelle Forschung und Lehre orientiert sich allerdings in weiten Teilen an den Kulturparadigmen der Nationalcharakterforschung aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Homogenität, Determinismus, Kohärenz). Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass kulturelle Praktiken immer schon das Ergebnis von Translationsprozessen sind, verwundert, dass bis dato keine wesentlichen konzeptionellen Schnittmengen zur Translationswissenschaft gesucht worden sind.
Auf welche Weise können translationstheoretische Ansätze dazu beitragen, überholte Kulturparadigmen in der interkulturellen Kommunikationsforschung zu überwinden, um auf diese Weise der komplexen Reziprozität jedwedem interkulturellen Austauschs Rechnung zu tragen?
(2) Die Translationswissenschaft hat sich ähnlich wie die Interkulturelle Kommunikation spätestens seit der kulturellen Wende als eigenständige Wissenschaftsdisziplin etabliert. Parallel zu den Entwicklungen, die sich aus diesem turn entwickelt haben, lässt sich immer öfter beobachten, dass translationswissenschaftliche Begriffe und Konzepte auch in anderen Disziplinen aufgegriffen werden. Über den heuristischen Wert dieser transdisziplinären Entlehnungen herrscht in der Translationswissenschaft kein einstimmiger Konsens. Besonders die von den Kulturwissenschaften proklamierte ‚translatorische’ Wende hat zu Irritationen geführt, die sich zu einer regen intradisziplinären Debatte über das Verhältnis zwischen linguistischen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen in Forschung und Lehre gewandelt hat.
Auf welche Weise könnten Überlegungen, die unter dem Label ‚interkulturelle Kommunikation’ verhandelt werden, in dieser Debatte fruchtbar gemacht und dabei die konstruierte Dichotomie zwischen einem sogenannten ‚engen’ oder ‚weiten’ Übersetzungsbegriff überwunden werden?